Schreibwettbewerb April Finalisten Christina Sitzmann

Mit der Story von Christina Sitzmann geht es heute weiter. Vielen Dank für Deine Teilnahme.

Wir wünschen Euch viel Spaß beim Lesen,

Euer Lounge Team.


Memory

Müde erhebe ich meinen schwerfälligen Körper aus dem weichen Bett und schaue mich noch vom Schlaf benommen um. Aber warte! Wo bin ich? Das hier ist nicht mein Zuhause. Meine Wände sind nicht apfelgrün gestrichen sondern zitronengelb und ich habe Holz an der Decke und nicht dieses scheußliche Grün. Hektisch stehe ich auf. Komisch, meine Filzpantoffeln stehen vor meinem Bett. Auch das Bild von Franz und mir steht wie gewohnt an meinem Nachttisch. Habe ich etwa gestrichen? Nein! Das kann nicht sein. Ich mag zwar alt sein, aber ich habe immerhin noch Geschmack, diese Farbe wäre niemals an meine Wand gekommen. Auch der Fußboden besteht aus hellerem Holz als bei mir. Aber wo bin ich nur?

Wurde ich etwa entführt?

Ja! Das muss es sein!

Bevor ich aber laut um Hilfe rufen kann, sehe ich ein kleines Zettelchen auf meinem Nachttisch, der dort normalerweise nicht liegt. Mit zitternden Hände greife ich danach. Da steht etwas. Ist das etwa eine geheime Botschaft von meinen Entführern?

Du bist Genoveva, 87 Jahre alt und wohnst hier.

Verwirrt runzle ich die Stirn. Es stimmt, dass ich Genoveva heiße, aber bin ich wirklich schon so alt? Nein, als ich gestern zu Bett gegangen bin war ich erst 19 Jahre alt und Franz und ich haben geheiratet. Wo ist Franz eigentlich? Haben sie etwa nur mich entführt? Aber was kann ich ihnen denn bieten? Ich bin doch nur eine einfache Hausfrau, nicht mal in der Schule war ich, weil Mutter mich für das Vieh brauchte. Vater war nämlich im Krieg gefallen vor genau 5 Jahren. Das war ein trauriger Tag für die ganze Familie gewesen. Meine Brüder waren heimgekehrt nachdem der schreckliche Krieg zu Ende war, aber ein Soldat war schon 1 Jahr zuvor gekommen und hatte uns davon berichtet. Danach war es meine Arbeit gewesen mich um den Hof zu kümmern, während meine Mutter für meine kleinen Geschwister sorgte. Aber ich schweife ab. Wieso war ich gerade noch so aufgeregt gewesen. Wieder blicke ich mich im Zimmer um, in der Hoffnung auf einen Hinweis.

Da die grünen Wände! Das waren nicht meine und hier der Zettel in meiner Hand.

Hier muss doch wenigstens ein Spiegel sein, damit ich mich frisieren kann. Vielleicht hinter dieser kleinen Tür? Vorsichtig schleiche ich zu der anderen Tür, behalte aber die zweite immer im Auge, falls mich jemand von hinten angreifen will. Nur weil ich erst zarte 19 bin, heißt das nicht, dass ich mich nicht wehren kann. Schließlich kann ich auch Heu machen. Flink öffne ich die Tür und gebe den Blick auf ein kleines Bad frei, mit einem Spiegel. Entgeistert blicke ich der Frau entgegen, die aus dem Spiegel starrt. Das kann unmöglich ich sein! Verwirrt berühre ich mein Gesicht. Und tatsächlich sie fühlt sich runzlig an. Aber das kann doch unmöglich wahr sein. Ich war doch 19 als ich zu Bett gegangen bin. Was ist nur passiert. Panik erfasst meinen Körper und ich schwanke bedrohlich hin und her. Wie kann das sein. Tränen der Verzweiflung rinnen über meine Wangen. Was ist mit meiner Jugend passiert, meinem ganzen Leben? War ich etwa wie Dornröschen in einen langen Schlaf gefallen. Ich möchte dieses alte Gesicht nicht sehen, nichts ist von mir übrig geblieben. Nur meine Augen sind noch genauso klar und leuchtend blau wie vor dieser omniösen Nacht.

Aber was ist wenn meine Entführer mich versuchen zu manipulieren? Vielleicht bin das gar nicht ich in diesem Spiegel und sie haben nur mein Bild mit dieser alten Frau ausgetauscht. Aber sie hatten mich gut kopiert, dass muss man ihnen lassen, denn das Bild hatte die weißen Haare genauso in den Nacken geschlungen wie ich es immer mache. Sie sind wirklich gut, aber so leicht lasse ich mich von ihnen nicht ins Bockshorn jagen.

Zurück im Zimmer versuche ich irgendwelche Hinweise zu bekommen. Akribisch genau lasse ich meinen Blick über jedes Möbelstück und die Wände gleiten bis mir ein kleiner Kalender ins Auge sticht. Ha! Damit haben sie einen Fehler gemacht. Ich weiß nämlich genau das wir den 29. September 1949 haben, denn gestern haben Franz und ich geheiratet und das war am 28. gewesen. So schnell es meine Beine erlauben halte ich auf das kleine Tischchen am Fenster zu auf dem der Kalender steht und zwei Stühle daneben.

Aber wieso zwei Stühle? Ich bin doch alleine hier?

Na ja egal, erst muss ich mich um den Kalender kümmern. Siegessicher greife ich danach, aber ich werde bitter enttäuscht. Meine Entführer sind schlauer als gedacht. Denn es steht das Jahr 2017 auf dem Kalender, es ist das Jahr indem ich am 14. Mai 87 geworden wäre. Aber das Datum ist falsch, es zeigt nämlich den 8. August an. Hmm doch nicht so schlau wie sie gedacht haben.

Plötzlich bemrke ich das Grummeln in meinem Bauch. Oh ich habe wohl Hunger. Das ist perfekt. Die Menschen können mich ja nicht ohne Essen hier sitzen lassen. Ich werde mich einfach neben der Tür auf die Lauer legen. Aber was benutze ich als Waffe. Dort ist eine Zeitung, die könnte ich zusammenrollen, besser als nichts wäre es auf alle Fälle. Gewissenhaft kontrolliere ich auch hier nochmal das Datum, aber es ist das gleiche wie auf dem blöden Kalender. Enttäuscht rolle ich die Zeitung wieder zusammen und stelle mich neben dieTür, sodass ich den möglichen Eindringling sofort mit der Zeitung hauen kann und dann fliehen. Ich bin stolz auf meinen tollen Plan.

Wie auf das Stichwort geht ein Ruckeln durch die Tür und sie öffnet sich. Eine Frau erscheint darin, so um die 40 Jahre alt mit einem weißen Kittel, braunen Haaren und einer schlanken Brille auf der Nase. In den Händen hält sie ein Tablett, vermutlich verbirgt sich darunter etwas zu Essen, aber das glaube ich nicht vielleicht ist das nur Tarnung. Die Frau trägt auch einen Ohrring, aber nur einen. Sie wirkt wie eine Kellnerin, nur der weiße Anzug stört mich. Bin ich etwa in einem Hotelzimmer? Aber das kann doch nicht sein. Gestern Abend sind Franz und ich doch zusammen in dem Haus meiner Mutter zu Bett gegangen und er hatte mir mein wunderschönes weißes Abendkleid, das als Hochzeitskleid fungierte, von den Schultern gestriffen. Ein wohliger Schauer durchläuft meinen Körper als ich daran denke. Es hat sich so wundervoll angefühlt, aber jetzt muss ich erstmal hier raus und dann Peter suchen, danach können wir immer noch das von gestern Abend wiederholen.

Energisch schreie ich auf: „Hey, Sie! Wieso nehmen Sie mich gefangen. Was wollen sie von mir!“, dabei lasse ich meine Zeitung nur noch energischer auf ihren Kopf hinabsausen.

Die Frau im Kittel seufzt aber nur genervt und zeigt sich gänzlich unbeeindruckt.

„Frau Lochner, ist es schon wieder soweit?“, fragt sie resignierend als wäre ich ein hoffnungsloser Fall. Sie stellt das Tablett auf dem Tisch mit den zwei Stühlen ab und lässt mich in der Tür stehen. Irgendetwas in ihrem Ton verunsichert mich, weshalb ich doch nicht sofort die Flucht ergreife. Vor allem hat sie mich mit dem Namen meines Mannes angesprochen. Weiß sie vielleicht wo er ist?

„Wo ist Franz?“, frage ich deshalb und gehe langsam und bedrohlich, immer noch mit der Zeitung bewaffnet, auf sie zu.

„Das ist doch alles ein täglich wiederkehrendes Dèjá vu.“, gibt sie genervt von sich. Wow, was für ein tolles Fremdwort, das hätte ich der ungehobelten Kellnerin gar nicht zugetraut.

„Also wo ist er nun?“, wiederhole ich meine Frage. Also bitte, der Spiegel will mir zwar weiß machen, dass ich alt aussehe, aber ich bin doch nicht senil!

„Hören sie mir gut zu Frau Lochner. Ich werde das heute nur einmal sagen: Sie wurden nicht entführt, sondern sind im Altenheim. Sie sind 87 Jahre alt und haben eine Tochter und einen Sohn und fünf Enkelkinder. Franz ist schon vor 7 Jahren an Kehlkopfkrebs gestorben und Sie sind dement!“, erklärt sie mir als wäre ich ein kleines Kind, was mich rasend macht.

Aber woher weiß sie das, dass ich dachte, dass ich entführt wurde und wie soll ich fünf Enkelkinder haben, wenn ich mich doch nicht einmal an meine Kinder erinnern kann.

„Wie heißen meine Kinder?“, frage ich und setze mein Pokerface auf, in der Hoffnung, dass es nicht auffällt, dass ich selbst absolut keine Ahnung habe.

„Jonah und Kira“, antwortet sie wie aus der Pistole geschossen. Das sind wirklich schöne Namen, Franz hätten sie sicher gefallen.

Oh nein, hat die mürrische kleine Frau in dem weißen Kittel vielleicht recht und ich bin wirklich krank? Vor Verzweiflung beginnen meine Tränen zu laufen. Wieso kann ich mich nur nicht an meine Kinder erinnern? Ich muss eine schreckliche Mutter gewesen sein. Was denken nur meine Kinder von mir, wenn sie vor mir stehen und ich sie nicht mal grüße, weil ich sie nicht kenne. Wieder stöhnt die Frau genervt auf, kommt aber dieses Mal zu mir und nimmt mich bei der Hand. Willenlos lasse ich mich von ihr zu meinem Bett führen und sie macht eine Schublade meines Nachtschränkchens auf um nach einem Foto zugreifen. Auf diesem Foto erkenne ich die alte Frau von eben wieder, das muss wohl ich sein, aber sie lächelt glücklich. Neben ihr, beziehungsweise mir, sind zwei Erwachsene Menschen. „Das sind Jonah und Kira“, erklärt sie mir, „Joanh arbeitet als IT-Spezialist, also mit Computern, er ist sehr gut in seinem Fachgebiet. Er hat eine Frau namens Daria. Seine älteste Tochter Eva ist 8 Jahre alt, die Zwillinge Lilo und Milan 5. Kira arbeitet als Model und hat die Schönheit ihrer Mutter.“, dieses unerwartete Kompliment lässt mich doch gerade zu erröten und ich muss zugeben, dass sie mir wirklich ähnlich sieht, „Sie ist in dieser Branche ein Newcomer, also erst seit kurzem dabei und sehr bekannt. Ihr Mann heißt Lèon und ihre beiden Kinder Paul, er ist 6, und Pia ist 3.“, die Frau neben mir wirkt so,als hätte sie mir diese Geschichte schon unzählige Male erzählt, aber für mich ist das alles neu.

„Kann ich sie sehen?“, frage ich leise, „Ich würde sie gerne kennenlernen und ihnen eine bessere Mutter und Oma sein.“

„Genoveva, sie waren ihren Kindern eine sehr liebevolle Mutter und die beste Oma, die sich die Kinder wünschen konnten. Sie bekommen fast jeden Nachmittag von ihren Enkeln oder Kindern Besuch. Sie werden sehr geliebt.“, erklärt mir die Frau nun freundlich.

„Danke mein Kind, aber wie kann ich ihnen jetzt noch eine gute Mutter und Oma sein, wenn ich mich an all das nicht erinnern kann.“, schniefe ich traurig und wische mir eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Sie wissen alle von Ihrer Krankheit, nur Sie vergessen sie immer, aber scheuen sie sich nicht danach zu fragen. Besonders ihre Enkel erzählen gerne.“, lächelt sie.

„Wie oft müssen Sie sich so mit mir unterhalten?“, frage ich.

Mitleidig lächelt sie: „Mittlerweile fast jeden zweiten Tag.“

Oh, so ernst steht es um mich. Das muss sehr anstrengend sein, aber morgen werde ich mich an das hier erinnern und noch an vieles mehr. Was habe ich zum Beispiel an Franz` Beerdigung getragen?

Bevor ich mir selbst aber noch mit weiteren Fragen mein altes Gedächtnis zermürben kann kommt eine weitere Person durch die Tür. Sofort greife ich nach dem Bild, dass die zierliche Frau neben mir noch in ihren Fingern hält. Ja der dunkelblonde großgewachsene Mann muss Jonah sein, er ist ein Ebbenbild seines Vaters und der kleine Junge, der mit ihm das Zimmer betritt muss Milan sein. Ich freue mich sehr die beiden zu sehen, auch wenn ich sie bis vor ein paar Minuten noch nicht mal kannte.

„Hallo Oma!“, lacht Milan und ich freue mich darüber wie er Oma sagt. Er lächelt über beide Ohren und in seinen Augen liegt bedingungslose Liebe und Respekt.

„Wir haben dir Butterkekseis mitgebracht. Papa sagt, dass du das am liebsten magst, ich finde ja Schlumpfeis besser, aber okay.“, ich lächle. Keine Ahnung wie dieses Eis schmeckt, aber ich vertraue auf Jonahs Urteil.

„Hallo Mutter“, er beugt sich zu mir herunter und drückt mir einen Kuss auf die Wange und tauscht einen bedeutungsschweren Blick mit der Schwester, bevor er auch ihre Wange küsst. Macht man das so mit den Frauen im weißen Kittel? Ich weiß es auch nicht, aber ich vertraue meinem Sohn. Mein Sohn, wie komisch sich das anfühlt. Als ich heute morgen aufgestanden bin dachte ich, ich wäre 19. Und jetzt habe ich Kinder und sie haben schon Kinder. Ich habe in meinem vergessenem Leben wirklich viel geschafft. Nun beuge ich mich auch zu der Frau und küsse ihre Wange. Jonah sieht mich verwirrt an: „Kannst du dich etwa an Daria erinnern?“

Verblüfft sehe ich sie an: „Wie?“

„Mach dir keinen Kopf“, lächelt sie und legt mir eine Hand auf den Oberschenkel.

Dieser Nachmittag ist wunderschön, ich erfahre sehr viel von meinem früheren Leben und auch das meiner Kinder. Es ist schön, dass sie es nicht müde werden mir diese Geschichten andauernd zu erzählen. Es wirkt mehr so als würden Daria und Jonah sich wieder neu ineinander verlieben, während sie mir davon erzählen wie sie sich kennengelernt haben. Ich will nicht, dass dieser Tag endet, denn ich weiß nicht wie viel ich am nächsten Tag noch von alldem weiß. Wie viel mir die Nacht wieder von meiner Erinnerung rauben wird und das macht mir Angst, aber nicht mehr so viel wie heute morgen, weil ich weiß, dass ich Leute um mich habe, die mir die Erinnerungen wiedergeben werden.

Genau deshalb stelle ich heute Abend meine Filzpantoffeln genauso hin wie ich sie am morgen gefunden habe und lege meine Botschaft wieder auf den Nachttisch, nur habe ich dieses Mal einen Teil hinzugefügt:

Habe vertrauen, keiner will dir etwas Böses. Frag nach Jonah und Kira, nach Milan, Lilo und Eva. Nach Daria, Lukas, Paul und Pia. Sie werden dir helfen.

Erneut lasse ich den Blick durch den apfelgrünen Raum schweifen. So hässlich ist die Farbe gar nicht, sie schenkt mir Hoffnung und die Gewissheit, dass ich nicht alleine bin. Dass ich jeden Tag aufwachen werde und mich vielleicht nicht erinnern kann, aber es auch immer Menschen geben wird die es nicht müde werden mir von meinem Leben zu erzählen und mir köstliches Butterkekseis mitbringen werden. Ich habe Glück mit meiner Familie und bin stolz was ich aus meinen Kindern gemacht habe. Daria hatte recht, ich bin eine tolle Mutter und eine gute Oma. Vermutlich war ich auch eine gute Ehefrau gewesen, auch wenn sich Peter jetzt nicht mehr über mich beklagen kann.

Beruhigt knipse ich das Licht aus und lasse mich zufrieden in mein kuscheliges Bett sinken.

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