Schreibwettbewerb Februar Finalisten Christina Sitzmann

Tag 4, die vorletzte Geschichte, die es in unsere Finalrunde geschafft hat.

Wir wünschen Euch viel Spaß beim Lesen und bedanken uns bei Christina für ihre Einsendung.


Mermaid – Christina Sitzmann

Ich bin Julie, 16 Jahre alt und meine Familie kommt ursprünglich aus Frankreich lebt aber seit einigen Jahren in Deutschland, weil mein Papa versetzt wurde. Und ich habe Trisomie 21. Trisomie 21 heißt, dass im Chromosomensatz meines Erbgutes ein Chromosom, genauer genommen Nummer 21, dreimal vorhanden ist und nicht wie üblicherweise zweimal. Die meisten würden wohl sagen ich leide an dem Down-Syndrom, aber ich leide überhaupt nicht. Natürlich fällt es mir schwerer mich mit anderen Menschen zu unterhalten aber meine Familie und ich haben unsere Wege gefunden, ich schreibe einfach alles auf, was meine Fähigkeiten übersteigt. Ich habe sogar einen von diesen coolen Computern , aber ich habe mir für jedes Familienmitglied ein kleines Büchlein zugelegt, in denen ich aufschreibe, was ich sagen möchte. Nur wenn wir uns alle unterhalten nutze ich den Computer. Das Büchlein meiner Mama ist rosa und das von meinem Vater blau, das Buch meines großen Bruder, Sylvain, ist grün,das meines kleinen Bruders gelb, er heißt Antoine. Und die meiner beiden kleinen Schwestern Camille und Bernadette sind orange und rot, so kann ich mich gut mit allen unterhalten und wenn ich mal was Wichtiges vergessen haben sollte muss ich nicht wie sie jemand anderen fragen sondern kann selbst nachschauen. Ich bin auch nicht so mobil wie meine Geschwister, aber das hat uns nie ausgebremst. Wenn meine Geschwister mit dem Fahrrad um die Wette fuhren bin ich mit meinem Rolli einfach hinterher und kann stolz behaupten, dass ich ziemlich oft gewonnen habe. Heute bin ich mit meinem großen Bruder Sylvain Zuschauer der Qualifizierung der Europameisterschaft der Schwimmerinnen. Sylvain ist schon 19, hat aber keine Probleme, damit wie wahrscheinlich viele andere in seinem Alter, mit seiner uncoolen, sabbernden Schwester einen Ausflug zu unternehmen. Genau deswegen ist er auch mein Lieblingsbruder, er hat schon recht früh gemerkt, dass ich eine sehr gute Zuhörerin bin und Geheimnisse gut für mich behalten kann, deswegen hat er auch schon oft mit mir über seine Freundinnen gesprochen. Denn das darf man nicht missachten, Sylvain ist nicht nur super lieb und nett, sondern auch sehr cool, attraktiv und schlau. In der Schule ist er sogar einer der „Beliebten“. Aber heute ist er einfach nur mein Bruder, der gerade fürsorglich meinen Rolli auf den Platz für Behinderte schiebt und den Klappstuhl neben mir herunterklappt um sich zu setzen. Man muss schon sagen, dass es für meine Familie sicher sehr anstrengend ist sich immer um mich zu kümmern, da ich ja doch ziemlich eingeschränkt bin, aber dafür bekommen sie bei solchen Events, dank mir, immer einen guten Platz. Das finde ich aber auch gerechtfertigt, sie kümmern sich so gut um mich und geben mir das Gefühl „normal“ zu sein, dass sie gerne die kleinen Vorteile ausnutzen können. Zum Beispiel dürfen Sylvain und ich heute nach dem Wettbewerb unsere Lieblingsschwimmerin treffen. Sie heißt Fabienne Durand, kommt gebürtig auch aus Frankreich und ist mit ihren 17 Jahren schon sehr erfolgreich. Sie ist eine richtige Wassernixe, aber mit ihren langen schwarzen Haaren sehr anbetungswürdig und schön. Sie bewegt sich anmutig auf den keinen Turm auf dem ein Sprungbrett befestigt ist, von dem sie in den Wettbewerb starten wird. Heute weden die Gegner 100m Freistil absolvieren um sich für die Europameisterschaft zu qualifizieren. Fabienne tritt natürlich für Frankreich an und wird vermutlich Delfin schwimmen, dieser Wettbewerb könnte ihr großer Durchbruch werden, sie ist nämlich die überraschenste Newcomerin des Jahres und obwohl auf ihren zarten Schultern ein sehr großer Druck lasten muss atmet sie ruhig und kontrolliert ein und aus. Lächelnd stupse ich meinen Bruder an, der mir sofort seine ganze Aufmerksamkeit schenkt, weshalb ich meine Nachricht schnell in das grüne Büchlein schreibe: „Pass auf, dass du nicht anfängst zu sabbern und alle denken du wärst der Behinderte und nicht ich!“ Sofort beginnt er so herrlich tief zu lachen, was viele Mädchen wohl in die Ohnmacht getrieben hätte, aber mich zu einem erheiternden Glucksen führt. Ich liebe es meinen Bruder zum Lachen zu bringen und freue mich, dass ich das kann. „Keine Angst Julie, dir werde ich niemals die Show stellen können“, zwinkert er mir zu. Ich mag, dass es zwischen uns so unkompliziert ist, viele meinen immer, dass sie aufpassen müssen, was sie im Bezug auf meine Behinderung zu mir sagen dürfen, aber das ist Unsinn. Man soll über alles und jeden Witze machen, denn sobald man das nicht macht fängt ja schon die Unterscheidung zwischen den Menschen ins Gewicht. Deswegen mache ich Witze über mich und jeden anderen, ich lache gerne und über sich lachen zu können ist doch das Wichtigste. Genau das hat Chris Tall mal in seinem Programm erwähnt, ich saß damals im Publikum und habe mich in meiner Weltansicht total bestätigt gefühlt, nur habe ich durch ihn endlich die richtigen Worte gezeigt bekommen um mich im Bezug auf dieses kritische Thema ausdrücken zu können. „So auffällig?“, schiebt Sylvain nach und wird doch tatsächlich leicht rot. „Jaa“,stöhne ich mit meiner tiefen, kehligen Stimme. Das ist das Einzige was mich nervt, mein etwas verschobenes Aussehen, meine Einschränkungen sind alles kein Problem, aber ich hätte gerne eine schöne Stimme, wenn ich spreche. Alle Franzosen haben so eine schöne melodische Stimme und ich höre mich in etwa wie ein erstickender Rabe an, auch wenn Mama immer behauptet, dass meine Stimme ganz wundervoll ist, teile ich ihre Ansicht nicht. „Hoffenlich schafft sie es in den Kader für die Europameisterschaft“, gebe ich meine Bedenken zu Tage, denn genau genommen dürfen Sylvain und ich nur den neuen Kader der französischen Mannschaft der Frauen treffen und das sind halt nur 15 Teilnehmer, aber 40 Probanden, die sich heute beweisen wollen. „Ja das hoffe ich sehr“, antwortet mein Bruder nachdenklich und lässt seinen Blick abwesend über die volle Schwimmhalle gleiten. Wir sitzen direkt in der ersten Reihe und könnten sogar noch nass gespritzt werden, wenn die Hechte der Probanden nicht so sauber sind. Vor uns erstreckt sich das große Becken für die Schwimmer, dass so ausgelegt ist, dass 10 Menschen nebeneinander starten können und für die 100m einen Wechsel brauchen. Direkt gegenüber von uns ist der Hochstuhl der Schiedsrichter und dahinter die Anzeigentafel. Es gibt 10 Beauftragte, die für jeweils einen Schwimmer die Zeit stoppen. Die Halle ist bis auf den letzten Platz gefüült, da wären zunächst die erhöhten Bankreihen hinter uns und an den kurzen Seiten des Beckens und dann noch den VIP-Bereich der durch eine Glaswand zu einem seperaten Raum abgetrennt ist. Fabienne Durand startet bereits in der ersten Gruppe, was heißt, dass sie eine gute Zeit vorlegen muss, damit sie nicht von ihrem Platz im Kader vertrieben wird. So allmählich wird es immer ruhiger und auch die letzten Schwimmer nehmen ihre Ausgangsposition ein. Mir klopft das Herz vor lauter Nervosität bis zum Hals und es kommt mir so vor als stünde ich an Fabiennes Stelle. Sylvain scheint meine Aufregung zu bemerken und greift beruhigend nach meiner Hand und drückt sie beschwichtigend. Und schon ertönt der Pfiff, fast zeitgleich springen alle Teilnehmerinnen ab und landen mit einem eleganten Hecht imWasser, kein einziger Tropfen berührt mich. Es geht so schnell, schon hat Fabienne den Beckenrand erreicht und vollführt eine gekonnte Rollwende, bevor sie im Delfin die Zielgerade anpeilt. Leider gibt es einige, die ihr voraus sind und, dass scheint auch sie zu bemerken, denn plötzlich nimmt sie nochmal ordentlich an Tempo auf und schon berührt sie die Bande. Immer noch ist es Stil im Schwimmbad und alle starren wie gebannt auf die Anzeigentafel. „Fabienne Durand: 1:40,6 Minuten“, schallt es aus den Lautsprechern und die Sportliebhaber jubeln, sie hat ihre persönliche Bestzeit geschlagen, aber ob es für den Kader reicht, ist ungewiss. Noch steht sie auf der Liste auf Rang 3. Aber sie strahlt und sonnt sich im Applaus, mit der Gewissheit, dass sie alles gegeben hat. Neugierig mustere ich Sylvain wie er verträumt lächelt, da hat sich wohl einer etwas verguckt. Jetzt hoffe ich gleich doppelt, dass sie in den Kader kommt, sonst hat sie ja nicht die Chance meinen tollen Bruder kennenzulernen. Vergnügt quiecke ich bei den Gedanken und sofort schnellt Sylvains Blick zu mir. „Was denkst du?“, fragt er sanft und Neugierde glitzert in seinen Augen. „Nichts“, schreibe ich. So langsam neigt sich der Wettbewerb dem Ende zu, aber im Gegensatz dazu steigert sich meine Aufregung. Der letzte Durchgang beginnt gleich und Fabienne steht mittlerweile auf Rang 14, die Schwimmerinnen sind dieses Jahr echt in Form. Blöderweise sind jetzt in der letzten Gruppe noch zwei Favoritinnen Jade Claude und Annika Seville, die eigentlich schon fester Bestandteil des Kader sind. Nervös quetsche ich die Hand meines Bruders und auch er wirkt angespannt. Und zum letzten Mal an diesem Tag ertönt der Pfiff, der den Beginn des Wettbewerbs signalisieren soll. Wie erwartet setzen sich Annika und Jade gleich an die Spitze der Truppe und legen ein ordentliches Tempo vor. Nach einer perfekten Rollwende beginnt Annika Seville die letzten 25m und auch Jade Claude, die kurz hinter ihr ist setzt zur Rollwende an, aber da passiert es. Jade Claude strauchelt, sie muss sich bei ihrer Lufteinteilung verschätzt haben und hat zu viel Auftrieb,sie ist zwar nach dieser etwas unglücklichen Wende immer noch auf Platz 2 in ihrer Gruppe, aber doch hat sie ihr wichtige Sekunden gekostet, die an dieser Stelle sehr viel ausmachen können. Sobald alle angeschlagen haben starren wir wie gebannt auf die Tafel und dann passiert das Unglaubliche: „Annika Seville: 1:35,7 Minuten, ist sicher im Kader. Jade Claude: 1:40,7 Minuten und ist somit kanpp ausgeschieden, dafür hat es Newcomerin Fabienne Durand geschafft!“ Sylvain und das halbe Publikum springen auf und bejubeln die Siegerin der Herzen, auch wenn die Niederlage für Jade sehr schade ist quiecke auch ich vergnügt und rutsche ungeduldig auf meinem Rolli hin und her. Langsam leert sich das Schwimmbad und nachdem mir Sylvain noch das letzte bisschen Sekret vom Gesicht gewischt hat machen wir uns auf den Weg zu Fabienne. Ein Mitarbeiter holt uns ab und führt uns dann langsam durch einen Tunnel, durch den wir zu den Umkleiden der Schwimmerinnen gelangen. Er bedeutet uns vor einer Tür zu warten und sein abschätziger Blick entgeht mir nicht, als er mich betrachtet, aber ich ignoriere ihn einfach. Sylvain drückt meine Schulter und ich weiß nicht ob er es tut um mich zu beruhigen oder sich selbst, aber das ist ja eigentlich auch egal. Und dann geht die Tür auf und die Schwimmerinnen kommen zu uns heraus, alle strahlen und lachen ausgelassen. Aber Sylvain und ich haben nur Augen für Fabienne Durand, denn sie ist mit Abstand die Schönste und Glücklichste von allen. Ihre langen schwarzen Haare sind noch nass und beginnen sich zu locken, ihren Körper hat sie mittlerweile in den Mannschaftsanzug gehüllt. Ihre Wangen sind vor Erregung und Glückseligkeit leicht gerötet und aus der Nähe kann ich ihre blauen Augen schimmern sehen und Sommersprossen die meinen nicht ganz unähnlich sind. Sie geht vor mir auf die Knie und reicht mir freundlich die Hand. „Salut, du musst Julie sein, oui? Ich bin Fabienne.“, erfreut quiecke ich, sie kennt meinen Namen. Sofort ziehe ich einen Block aus meinem Rucksack: „Salut! Ja ich bin Julie! Ich bin ein sehr großer Fan.Du warst unglaublich! Das da ist Sylvain, mein großer Bruder.“, schreibe ich. Erst jetzt huschen ihre Augen zu Sylvain und weiten sich unmerklich. „Salut“, begrüßt er sie und gibt ihr, ganz der Franzose, drei Küsschen auf die Wange, wenn mich nicht alles täuscht wird sie sogar rot. Tja meinem Bruder kann man halt nur schwer widerstehen. Ein paar Augenblicke, sehen sie sich einfach nur lächelnd in die Augen, was mir ein Glucksen entringt, blöderweise stehe ich jetzt wieder im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Ich mag es wie Fabienne meinen Bruder ansieht, aber noch mehr mag ich es wie sie mit mir spricht und redet. Sie geht auf Augenhöhe mit mir und schaut mir ohne Scheu ins Gesicht, sie spricht so wie mit jedem anderen und behandelt mich nicht wie ein kleinesKind. Das macht mich sehr glücklich, denn kein Behinderter möchte als minderbemittlet dargestellt werden, wir sind immer noch ganz normale Menschen. Nur sind unsere Defizite meist unschwer zu erkennen, aber deswegen sind wir nicht schlechter. Wenn man bedenkt, dass wir in einer Welt voller Terror, Angst und Gewalt leben sind wir doch nur eine kleine Bedrohung. Aber unsere Andersartigkeit überfordert einfach viele, deswegen müssen auch wir mit den Menschen geduldig sein, denn wir sind so geboren und wissen wie es sich anfühlt, die anderen nicht und das macht die Kommunikation so schwer. Aber mit Verständnis auf beiden Seiten können wir auch diese Barriere überwinden. Nach anfänglicher Scheu haben die Schwimmerinnen, Sylvain und ich sehr viel Spaß und unterhalten uns sehr gut. Die Schwimmerinnen versuchen wie ich nur mit dem Schreiben zu kommunizieren und am Ende tauschen wir, ich bekomme ihre Notizen und sie meine. Das ist ein großartiges Geschenk. Sylvain streichelt mir liebevoll über den Kopf, als Fabienne ihm plötzlich einen kleinen Zettel zusteckt, der nur für seine Augen bestimmt ist. Er öffnet ihn und schlagartig leuchten seine Augen so hell wie Fabiennes und meine. Nach einer herzlichen Verabschiedung aller voneinander mit den obligatorischen Küsschen, schlafe ich fast sofort ein. Mittlerweile ist einige Zeit seit dem Wettbewerb vergangen und meine ganze Familie sitzt heute mit mir und Sylvain im Publikum um Fabienne in ihrem ersten Wettbewerb für die Europameisterschaft zu unterstützen. Sie steht bereits auf ihrem Startblock und atmet noch einmal tief durch, bevor der Pfiff ertönt und sie in das kühle Nass abtaucht. Die Disziplin ist die gleiche wie noch vor ein paar Monaten, 100m Freistil, sie wählt wieder Delfin. Bereits nach kurzer Zeit schlägt sie an der Bande an: „Fabienne Durand: 1:38,9 Minuten verblüfft mit einer neuen Bestzeit in dieser Runde!“, brüllt der Kommentator durch die Megafone und Applaus brandet zu allen Seiten auf. Glücklich glucksend warte ich das Ende des Wettbewerbs ab und ziehe bereits mein neues fliederfarbenes Büchlein aus der Tasche. Und sobald sich die Halle bis auf uns geleert hat, kommt eine strahlende Fabienne auf uns zu, na ja eher auf Sylvain als auf uns. Glücklich fallen sie sich in die Arme und Sylvain gibt ihr einen langen zärtlichen Kuss. Nach der Qualifizierung für die Europameisterschaft haben die beiden sich öfter getroffen, manchmal haben sie mich sogar mitgenommen und ich durfte mit ihnen Schwimmen, oft haben sie alleine was unternommen. Jetzt sind sie ein Pärchen und ich freue mich riesig für Sylvain, den besten großen Bruder, den man haben kann. Ich schlage Fabiennes lila Büchlein auf und überlege gerade was ich schreiben soll, als mir jemand den Stift aus der Hand nimmt. Neugierig blicke ich auf und sehe in Fabiennes lächelndes Gesicht. „Merci, Julie“, schreibt sie. Und diese zwei Worte erfüllen mich mit purem Glück. Endlich konnte ich meinem Bruder das Geschenk machen, dass er schon so lange verdient hatte.Vor lauter Glück laufen mir zwei kleine Tränen über die Wange, die Sylvain lachend wegküsst, wie er es schon immer gemacht hat, und mir liebevoll über die Haare streicht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.