Zum Abschluss unseres Monats November folgt noch die Geschichte von unserer Autorenpatin Ilka Hauck. Vielen Dank noch einmal, dass du die Patenschaft übernommen hast und mit Deiner Geschichte einen tollen Beitrag beisteuerst.
REMEMBER YOU AND ME
LOUISA – ISLE OF SKYE; GEGENWART
Zornig stapfe ich über den Strand, starre missmutig auf den Boden vor mir. Es ist kühl und stürmisch und der Wind zaust durch meine langen rotblonden Haare, die weit über meinen Rücken fallen. Ich ziehe mir die Mütze tiefer in die Stirn und atme tief durch. Kann ein Urlaub noch blöder verlaufen? Nicht nur, dass ich mit meinen siebzehn Jahren mit meinen Eltern in die Ferien fahren muss, nein, wir landen auch noch komplett am Arsch der Welt. Nicht etwa in einem coolen Club auf Mallorca oder wenigstens einem All-Inclusive-Hotel auf Teneriffa, nein, wir fahren nach Schottland. Auf die Isle of Skye. Im Herbst. Missmutig kicke ich einen kleinen Ast aus dem Weg, starre auf die aufgewühlte See. Eigentlich mag ich diese raue Landschaft, aber im Moment geht sie mir auf den Wecker. Wie alles hier. Am schlimmsten jedoch ist die Sache mit Tobi. Tobias, zwanzig Jahre alt, Student, unfassbar hübsch und seit einem Jahr mein Freund. Mein Freund, der gerade ziemlich krass im Model-Business durchstartet, nebenbei studiert und noch mehr nebenbei mich an der Backe hat. Und klar, man muss Prioritäten setzen und bei Tobi liegen die zurzeit definitiv nicht bei mir. Er hat mir versprochen, zumindest für ein verlängertes Wochenende nach Schottland mitzukommen. Richtig gemütlich wollten wir es uns machen. Pärchenzeit. Nur er und ich. Endlich mal wieder, da wir in den letzten Wochen kaum Zeit füreinander hatten. Aber ist er hier? Nein. Ein Shooting in New York ist natürlich cooler und außerdem superwichtig für die Karriere.
„Komm schon, Babe, das verstehst du doch, oder? Das ist meine Chance, die muss ich einfach nutzen. Wir holen das nach, versprochen.“
Tja, das hat er gesagt und nun ist er in New York und ich bin hier. Es ist ja nicht so, dass ich es nicht verstünde, oder ihm nicht gönnen würde, im Gegenteil. Ich bin megastolz auf Tobi und ich weiß, er wird es schaffen. Dennoch habe ich Angst. Angst, ihn zu verlieren. Denn wer bin ich schon? Ich bin Louisa Winter aus Lübeck, siebzehnjährige Tochter eines Steuerberaters und einer Lehrerin. Ich habe einen kleinen, nervigen Bruder und gehe noch zur Schule. Was, wenn Tobias eines dieser total angesagten Male-Models wird? Dann wird er Leute kennenlernen wie Cara Delevingne oder Francisco Lachowski. Was soll er denn da noch mit Lou aus Lübeck? Zu meinem Ärger merke ich, wie mir Tränen in die Augen steigen. Ich liebe Tobias, wie ich bisher noch nie jemanden geliebt habe. Und die Vorstellung, ihn zu verlieren macht mich verrückt. Er selbst lacht nur über meine Ängste und erstickt sie mit einem dieser wahnsinnig süßen Tobi-Küsse im Keim. Und in diesen Momenten glaube ich ihm, dass er es ernst meint und mich genauso heiß und innig liebt wie ich ihn. Doch dann, wenn er fort ist, sieht manches eben anders aus. Ich seufze. Und jetzt noch dieser Urlaub in den Herbstferien, den ich meinen Eltern in einem Anfall geistiger Umnachtung versprochen hatte und auf dem sie nun tatsächlich bestanden haben.
Ich hebe den Kopf, lasse meinen Blick übers Wasser schweifen. Die See ist unruhig, wie meistens hier. Der Wind ist rau und die Luft so klar, dass man das Gefühl hat, sie würde jede Pore der Haut durchdringen und dem ganzen Körper Leben einhauchen. Langsam laufe ich weiter, kneife ein wenig die Augen zusammen. Was schwimmt da auf dem Wasser? Etwas Grünes, das sich in abgerissenem Geäst verfangen hat. Ich bleibe stehen, trete ein wenig näher ans Wasser heran.
„Was ist das?“, murmele ich. Es sieht aus wie eine Flasche. Ich gehe noch näher ran und erkenne es. Es ist tatsächlich eine Flasche. Vermutlich hat sie jemand weggeworfen und es ist einfach nur eine alte, leere Flasche. Und doch … etwas in mir fühlt sich plötzlich ganz aufgeregt und nervös an und ich sehe mich um, ob ich etwas entdecke, mit dem ich meinen Fund aus dem Wasser fischen könnte. Etwas weiter entfernt entdecke ich ein längeres Stück Holz, mit dem es klappen könnte. Ich ergreife das Teil und mache mich ans Werk, die Flasche aus dem Wasser zu angeln. Endlich ist es geschafft und sie liegt vor mir im Sand. Ich betrachte sie und muss über mich selbst lachen, wie ich da stehe, mit wild klopfendem Herzen, als hätte es mit meinem Fund etwas Weltbewegendes auf sich. Dabei ist es einfach nur eine alte Flasche. Aber nun habe ich sie schon herausgefischt, jetzt will ich auch nachsehen. Es ist nicht so einfach, den Verschluss zu öffnen, doch irgendwie schaffe ich es, den halb vermoderten Korken aus dem Flaschenhals zu kratzen. Und es ist unglaublich … im Inneren der Flasche befindet sich tatsächlich ein Zettel. Ein Brief oder was auch immer. Meine Finger zittern, als ich das Papier mithilfe eines Stöckchens nach draußen befördere. Ich lege die Flasche in den Sand und falte den Zettel auseinander. Er ist nicht besonders groß und eng beschrieben. Die Farbe ist an manchen Stellen verwischt, beinahe so, als wären Tränen auf das Papier getropft und ich kann die Schrift teilweise kaum entziffern. Aber offensichtlich wurde der Brief von einem Mann geschrieben. Inzwischen hat es zu regnen begonnen und ich habe Angst, das dünne Papier in meinen Händen könnte aufweichen und alles vollends unleserlich werden. Deshalb falte ich den Zettel vorsichtig zusammen und stecke ihn sorgsam in die Jacke, bevor ich eilig den Weg zu unserem Cottage zurücklaufe.
Gleich nachdem ich die Tür geöffnet habe, empfängt mich der Duft nach frisch gebrühtem Kaffee und dem selbstgebackenen Walnusskuchen meiner Mutter. Ich merke, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft, doch ich bin viel zu neugierig auf den Brief, als dass ich mich mit Essen aufhalten möchte.
„Lou? Bist du das? Warte bitte kurz.“
Meine Mutter steckt den Kopf aus der Küche und lächelt mir zu.
„Wo warst du, Schatz? Ich habe gerade Kaffee gekocht und der Kuchen ist auch fertig.“
„Ich war am Wasser. Und danke, im Moment möchte ich nichts. Ich bin oben.“
Ich stürme die knarrende Holztreppe hinauf und eile in mein Zimmer. In Gedanken male ich mir bereits die wunderbarsten Liebesschwüre aus, die ich auf diesem Zettel gleich lesen werde. Gott, wie romantisch. Ob Tobi auch jemals auf solch eine Idee käme? Vermutlich nicht. Früher war einfach alles besser. Da waren Männer noch ganz anders, die Liebe hatte einen viel höheren Stellenwert und niemand reiste mal eben in zehn Stunden ans andere Ende der Welt.
Ich schlüpfe aus meiner Jacke und den Stiefeln, hole den Zettel hervor und lasse mich damit aufs Bett fallen. Ich falte ihn auseinander und vertiefe mich darin. Nach einer Weile habe ich mich an die altmodisch-schnörkeligen Buchstaben gewöhnt und schaffe es, den Text zu entziffern. Und was ich lese, ist nicht romantisch und nicht wunderbar. Es ist herzzerreißend traurig.
JACOB – ISLE OF SKYE; 1945
Langsam laufe ich den Weg entlang, bin in Gedanken noch ganz bei dem Gespräch mit Marys Vater. Wobei Gespräch nicht das richtige Wort ist. Es war ein Monolog, gehalten von Archibald Anderson, dem Ortsbürgermeister, gerichtet an mich, Jacob Mulroney, den Sohn des Fischers und Trinkers, Edward Mulroney. Und obwohl er so viele Worte verwendet hat, die alle ziemlich unfreundlich waren, gab es nur eine einzige Botschaft: Halte dich fern von meiner Tochter! Er sagte, ich werde ihr Leben zerstören und ebenso in der Gosse enden, wie mein nichtsnutziger Erzeuger. Und Mary verdiene einen besseren Mann. Einen, der sie ehren und glücklich machen wird. Und sie ernähren kann. Ich stand da und hörte mir an, was er zu sagen hatte, dachte die ganze Zeit, dass ich ihm widersprechen müsste. Ihm klarmachen muss, dass nichts davon wahr ist. Dass ich Mary mehr liebe als mein Leben und alles, wirklich alles tun werde, damit es ihr niemals an etwas fehlen wird. Dass ich sie glücklich machen kann, weil wir uns lieben. Und doch blieb ich stumm. Denn alles was er sagte, war richtig. Ich bin der Sohn eines nichtsnutzigen Trunkenboldes. Ein Fischerjunge. Mit meinen knapp achtzehn Jahren lebe ich mehr oder weniger von der Hand in den Mund. Jeder Tag, an dem ich nicht mit vor Hunger schmerzendem Magen auf meiner Pritsche in dem winzigen, kahlen Zimmer einschlafe, ist ein guter Tag. Was will einer wie ich mit einem Mädchen wie Mary Anderson? Mary … sie ist wie die Sonne in meinem Leben. So wunderschön, rein und gut. Sie verdient nur das Allerbeste, was man auf dieser Welt haben kann. Doch bin dieses Allerbeste ich?
„Verdammt.“
Ich bleibe stehen, stütze mich mit beiden Ellenbogen auf der Kaimauer ab, verberge den Kopf in den Händen. Ich weiß, was Mary zu all dem sagen würde. Sie ist so dickköpfig und stur in manchen Dingen. Und doch so unglaublich bezaubernd. Noch nie habe ich jemanden wie sie gekannt. Ich kann sie nicht verlieren. Nicht ohne sie sein. Aber darf ich das? Darf ich meine eigenen Wünsche und Sehnsüchte über ihre Bedürfnisse stellen? Archibalds Worte klingen in meinem Ohr.
„Du wirst sie zerstören, Junge. Das weißt du so gut wie ich. Vielleicht nicht heute. Vielleicht nicht morgen. Aber irgendwann wird sie dich dafür hassen, dass du ihr das Leben genommen hast, das sie verdiente. Willst du das? Ich kann dich nicht zwingen zu gehen, aber wenn du mein Kind liebst, dann verlasse diese Stadt. Noch heute. Geh und komm niemals mehr zurück. Dann werde ich dafür sorgen, dass es Mary an nichts fehlen wird. Bleibst du jedoch, werde ich dafür sorgen, dass es euch hier an allem fehlen wird. Niemand wird dir mehr Arbeit geben, Jacob. Niemand wird euch etwas verkaufen wollen. Niemand euch bei sich wohnen lassen. Du wirst Mary alles nehmen. Überlege dir also gut, was du tun willst.“
Verzweifelt starre ich auf die raue See. Wohin soll ich, ohne Mary? Was soll ich überhaupt auf dieser Erde, ohne sie? Sie ist doch alles, was mein Leben lebenswert macht. Sie ist das Einzige, was die dunkle Einsamkeit meiner Tage erhellt. Und ich weiß, wir können es schaffen. Das können wir. Wenn wir nur zusammenhalten. Wenn wir beide arbeiten …
„Oh Gott.“
Ich wühle mit beiden Händen in meinen Haaren, unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Aber ich werde es müssen. Mary wird mit mir kommen, wenn ich sie darum bitte. Sie wird auf Knien rutschen um fremden Menschen die Küche zu schrubben. Um ihnen Essen zu kochen. Aber das will ich nicht. Nicht sie. Sie hat so viel mehr verdient. Liebe. Was ist schon Liebe? Sie wird einen anderen Mann finden, einen, der sie liebt und versorgen kann.
„Du Dummkopf. Keinen wird sie je so lieben wie dich. Keinen je so ansehen. Was redest du da? Sie liebt dich und du liebst sie. Nimm dein Mädchen und geh mit ihr zusammen fort. Sei kein elender Feigling.“
Die Stimme in meinem Kopf ist eindringlich. Doch nicht eindringlich genug, um die Bilder zu verscheuchen, die Archibalds Worde hervorgerufen haben. Von einer schmutzigen Mary in zerrissenen Kleidern. Von einer Mary, die nachts vor Hunger nicht schlafen kann. Von einer Mary, die mich irgendwann hassen wird.
Ich weiß nicht, wie lange ich da stehe und auf die wogende See starre. Und irgendwann treffe ich meine Entscheidung.
LOUISA – ISLE OF SKYE; GEGENWART
Schniefend wische ich mir die Tränen von den Wangen, halte den Brief in meinen zitternden Fingern. Mein Gott, wie unsagbar traurig das ist. Jacob hat seine große Liebe verlassen, um ihr ein gutes Leben zu ermöglichen. Ich bin mir sicher, er hat es getan, weil er sie über alles geliebt hat. Aber offensichtlich hatte er wenig Ahnung von Frauen. Und von der Liebe. Ich würde mit Tobias überall hin gehen, egal, ob wir bettelarm oder reich wären. Ich würde alles tun, um bei ihm zu sein. Und ich bin mir sicher, Jacobs Mary hätte genauso gehandelt. Oh Gott, arme Mary. Ob sie je erfahren hat, was passiert ist? Ob sie je geahnt hat, wie sehr ihr Jacob sie liebte? Und welche Rolle ihr Vater gespielt hat? Ob sie noch leben, Jacob und Mary? Vielleicht haben sie einander ja wiedergefunden? Ich bin so in meine Gedanken vertieft, dass ich das Piepen des Handys kaum registriere. Doch dann fällt mir das blaue Licht ins Auge und ich greife hastig nach dem Smartphone. Eine Nachricht von Tobi.
Hi Engel. Wie geht’s meiner Süßen so im kalten, verregneten Schottland? Hast du schon einen sexy Highlander verrückt gemacht?
Obwohl ich eigentlich sauer auf ihn bin, muss ich nun doch grinsen. Er ist einfach ein Idiot. Aber ein süßer Idiot. Und der einzige Typ, den ich will. Und ich hoffe, er weiß das noch. Ich lasse mich mit einem Lächeln ins Kissen sinken und lese weiter: Bei mir ist alles okay. Ist mega stressig hier, das Shooting ging die halbe Nacht lang und ich hab gerade mal drei Stunden gepennt. Jetzt schnell duschen und frühstücken und dann geht es schon wieder weiter. Aber die Crew ist cool und die Kollegen toll. Kleines, ich muss leider los, melde mich später. Hab eine tolle Zeit. Und lass mir die Highlander in Ruhe. Love ya.
Noch während ich lese, merke ich, wie mir Tränen in die Augen steigen, so sehr vermisse ich Tobias plötzlich. Ich sehe ihn vor mir, diesen bildhübschen jungen Mann mit den blitzenden blauen Augen und dem dunkelblonden Strubbelhaar, das immer ein bisschen nach „gerade Sex gehabt“ aussieht.
„Ach, Tobi. Was soll das? Warum bist du dort und ich bin hier? Da kann doch was nicht richtig sein, oder?“
Hastig tippe ich eine Antwort auf seine Nachricht, von der ich nicht mal weiß, ob er sie lesen wird, bevor ihn der Modelrummel wieder im Griff hat. Ich warte eine Weile, doch nachdem keine Antwort kommt, rappele ich mich enttäuscht hoch und starre aus dem Fenster. Tolle Kollegen? Oder eher weibliche, wunderschöne Models? Ich fühle einen Stich im Herzen und schüttele den Kopf. Tobias gibt mir keinen Grund, ihm nicht zu vertrauen. Und doch ist da dieses nagende Gefühl der Unsicherheit. Ich bin drei Jahre jünger als er, habe Europa noch nie verlassen und drücke weiterhin die Schulbank, während er bereits studiert und die ganze Welt bereist. Der Altersunterschied war nie ein Problem für uns, aber im Moment fühle ich mich ihm und seinen tollen Modelfreunden hoffnungslos unterlegen.
„Ach, Mist.“
Ich erhebe mich und trete ans Fenster. Ich muss etwas tun, diese Grübelei macht mich noch verrückt. Und während ich den grauen Wolken hinterherschaue, habe ich eine Idee. Verdammt, ja, das ist es. Hastig schnappe ich meine Jacke und schlüpfe in die Stiefel. Der Brief, wo ist er? Ich entdecke ihn und stopfe ihn zusammen mit dem Handy in meine Jackentasche, bevor ich die Treppe hinunterpoltere.
„Bin nochmal weg. Bis nachher.“
Eilig stürme ich nach draußen, bevor jemand Fragen stellen oder mich aufhalten kann. Ich laufe den Weg zum Dorf und finde schnell, was ich suche. Das kleine, alte Rathaus mit der eingegliederten Bibliothek. Und ich habe Glück, es ist geöffnet. Leise trete ich ein und begrüße den älteren Herrn, der am Empfang sitzt. Er nickt mir lächelnd zu und ich begebe mich nach hinten zu all den Büchern, Zeitschriften und Zeitungen. Nach kurzer Zeit jedoch merke ich, dass es nicht so einfach ist, sich hier zurechtzufinden. Es gibt zwar einen etwas altertümlichen Computer, aber der spuckt die gewünschte Information leider auch nicht aus. Und so beschließe ich, den netten Bibliothekar zu fragen. Ich gehe nach vorne und er hebt den Kopf, sieht mich fragend an. Sein graues Haar ist schütter, er trägt eine altmodische Hornbrille, hinter der sich wache braune Augen verbergen. Ich räuspere mich und sage: „Entschuldigen Sie bitte. Sicher kommt Ihnen meine Frage merkwürdig vor, aber kannten Sie eine Mary Anderson? Oder einen Jacob Mulroney? Oder Archibald Anderson? Er war offenbar hier einmal der Bürgermeister.“
Er lächelt.
„Persönlich kannte ich Jacob leider nicht, ich war noch ein kleiner Junge, als er fortging, aber Mary kannte ich. Oder besser gesagt, ich kenne sie. Sie wohnt noch immer hier, ist mittlerweile fast neunzig Jahre alt.“
Ich reiße erstaunt die Augen auf. Das ist ja besser, als ich zu hoffen gewagt hätte.
„Wirklich? Das … oh mein Gott, ich habe hier etwas für Mrs. Anderson. Und ich bin mir sicher, sie wird sich sehr darüber freuen.“
Ich zeige dem Mann den Brief, erkläre ihm hastig, wo ich ihn gefunden habe und er nickt.
„Jacob. Ach du meine Güte. Die Geschichte der beiden war jahrelang hier großes Thema. Er war Marys große Liebe, das wusste jeder im Ort. War von einem Tag auf den anderen verschwunden. Sie kam nie so richtig darüber hinweg, auch wenn sie Jahre später geheiratet hat.“
Ich spüre einen dicken Kloß im Hals, sage leise: „Offenbar hat er nicht gewusst, wie er ihr seine letzten Zeilen zukommen lassen sollte, als er auf dem Schiff anheuerte und davonfuhr. Und hat gehofft, dass irgendjemand die Flasche findet und sie Mary übergibt.“
Der ältere Herr nickt.
„Wenn du möchtest, rufe ich Mary an und frage sie, ob es ihr recht ist, wenn ich dir ihre Adresse gebe.“
Ich nicke und lausche gebannt, was er am Telefon bespricht. Als er auflegt, strahlen wir beide und er sagt: „Dann los. Bring Mary den letzten Gruß ihres geliebten Jacob.“
Nach kurzer Wegerläuterung laufe ich los und finde das kleine, windschiefe Häuschen direkt am Meer recht schnell. Ich werde bereits erwartet, in der Haustür steht eine ältere Frau, die sich als Marion vorstellt, Marys Tochter. Ich folge ihr nach drinnen und begrüße im Wohnzimmer schließlich Mary Anderson. Die kleine weißhaarige Dame im Schaukelstuhl rührt mich auf den ersten Blick. Ich stelle mich ihr vor, erzähle ihr von meinem Fund und überreiche ihr den Brief. Ihre schmale Hand zittert, als sie das Papier in Empfang nimmt. Marion bringt Tee und Kekse und es ist totenstill im Raum, als Mary den Zettel auseinanderfaltet. Schließlich sagt sie leise: „Marion, würdest du bitte? Meine Augen, du weißt schon.“
„Natürlich, Mommy. Ich lese ihn dir vor.“
Und dann lauschen wir Jacobs letzten Worten an seine einzige große Liebe. Den Worten von Abschied, Schmerz und Trauer. Aber auch von der Hoffnung auf ein glückliches Leben für Mary. Aus jedem Wort spricht so viel Selbstlosigkeit und Zärtlichkeit, wie ich es noch niemals empfunden habe. Nachdem Marion geendet hat, sitzen wir alle drei still da und jede von uns weint leise vor sich hin. Es bedarf keiner Worte, Marys Kummer ist mit Worten greifbar. Wie schwer muss es sein, zu wissen, einen so wunderbaren Menschen grundlos verloren zu haben. Mit keinem einzigen Wort hat Jacob schlecht über Marys Vater gesprochen, im Gegenteil, er erbat ihr Verständnis für den Mann, der ihnen beiden alles genommen hat. Nach einer Weile hat Mary sich gefasst und sieht mich an.
„Vielen Dank, mein Kind. Ich kann dir nicht genug danken für dieses Geschenk. Nun kann ich endlich damit abschließen. Nach all den Jahren finde ich Frieden, auch wenn ich mir vieles anders gewünscht hätte.“
Ich nicke, schlucke den Kloß im Hals hinunter.
„Dafür nicht. Es war mir eine Ehre. Und es tut mir leid, dass ich ihn gelesen habe. Ich wusste ja nicht …“, stottere ich und Mary lacht herzlich.
„Aber nicht doch. Ich hätte ihn auch gelesen.“
Ich bleibe noch eine Weile, dann verabschiede ich mich und mache mich auf den Heimweg. Unterwegs klingelt mein Handy und Tobi ist dran. Ich bin nicht sonderlich gesprächig, muss das Erlebte erst sacken lassen, der Kummer um Jacob und Mary sitzt tief in meinem Herzen. Tobias will wissen, ob alles in Ordnung ist und ich erzähle ihm kurz von den beiden. Er verabschiedet sich danach recht schnell und ich lege nachdenklich auf.
Die nächsten beiden Tage verbringe ich mit meiner Familie, denn mir ist klargeworden, wie kostbar die Zeit ist, mit den Menschen, die man liebt. Und wie schnell sie vorbei sein kann. Am Abend des zweiten Tages kuschele ich mich gerade unter die Decke, als es an meiner Tür klopft.
„Mama? Komm rein“, rufe ich und die Tür öffnet sich langsam. Ich blinzele, die hochgewachsene, schlanke Silhouette, die sich gegen das schwache Licht abzeichnet, gehört definitiv nicht meiner Mutter.
„Tobi? Tobi!“, kreische ich, bin mit einem Satz aus dem Bett und hänge im nächsten Moment am Hals meines Freundes, der mich lachend auffängt und hochhebt.
„Hey, Engel. Da guckst du, was?“
„Oh Gott, Tobi. Was machst du hier? Du … oh mein Gott, ich freu mich so.“
Ich wuschele mit beiden Händen durch seine Haare, wir sehen uns an, dann endlich finden sich unsere Lippen zu einem stürmischen Kuss und alles in mir seufzt auf vor Glück und Erleichterung, meinen Schatz endlich wieder bei mir zu haben. Noch während wir uns küssen, klopft es an der Tür und mein Vater ruft: „Denk dran, Tobias, wenn du meine Tochter schwängerst, musst du sie heiraten.“
Wir sehen uns an und ich verdrehe die Augen, während auf dem Flur ein amüsiertes Lachen ertönt, gefolgt von der Stimme meiner Mutter, die meinen Vater offenbar energisch zu sich beordert.
„Manchmal ist er so peinlich“, murre ich, während Tobias zärtlich an meiner Unterlippe knabbert.
„Ach, lass ihn doch. Ich heirate dich ja sowieso.“
Er blinzelt und ich muss lachen.
„Tust du das?“
„Na klar.“
Nachdem wir uns ausgiebig begrüßt haben, setzen wir uns eng aneinandergeschmiegt aufs Bett und ich frage: „Jetzt sag schon, was machst du hier? Ich meine, das Shooting läuft doch noch, oder?“
Tobias schüttelt den Kopf und murmelt zwischen zwei kleinen Küssen: „Nope. War schon fertig und ich dachte mir, hey, ich kann doch meine Loulalou nicht diesen schottenrocktragenden Highlandern überlassen. Da schaue ich mal lieber nach dem Rechten.“
Ich grinse gegen seinen Mund. Loulalou, diesen Kosenamen hat er mir in unserer ersten gemeinsamen Nacht verpasst und gemeint, ich würde ihm so dermaßen den Verstand vernebeln, da käme eben so etwas dabei heraus. Lächelnd sage ich: „Dachtest du, ja? Und da fliegst du mal eben von New York nach Schottland und von dort noch weiter zur Isle of Skye?“
Er löst sich ein wenig von mir und sein Blick wird ernst.
„Ja, genau. Du klangst manchmal so traurig und ich wollte einfach bei dir sein. Ich weiß, dass du im Moment viel zurückstecken musst und das tut mir leid. Aber, Lou, du bist meine Nummer eins. Mein Engel, mein Baby, die einzige Loulalou, die ich je haben werde. Meine oberste Priorität bist immer du. Kein Shooting, kein Job, könnte mir je so wichtig sein wie du. Und ganz egal, wo immer auf der Welt ich sein werde, wenn du mich brauchst, bin ich da. Hörst du? Immer.“
Ich sehe ihn an, streichele zärtlich über seine Wange, während mein Herz überflutet wird von Liebe zu ihm. Wie konnte ich nur an ihm zweifeln?
„Okay. Es bedeutet mir wahnsinnig viel, dass du das sagst. In letzter Zeit hatte ich wirklich ziemliche Angst, nicht mehr wichtig für dich zu sein. Ich liebe dich so, weißt du?“, flüstere ich.
„Hmm, glaube schon. Und diese Angst brauchst du niemals zu haben, okay? Denn weißt du, ich liebe dich auch.“
Tobias drückt mich sanft in die Kissen und rollt sich über mich, während wir uns in einem langen, innigen Kuss verlieren. Der Mond schimmert durch die Wolken und es scheint, als würde er lächeln. Für uns. Und für Mary und Jacob.